Steilwandfahrer – das waren diese tollkühnen Pioniere, die mit antiquiertem Material und waghalsigen Erstbefahrungen den Skisport revolutionierten. Nicht erst seit Jérémies „La Liste“ erfreut sich die Subkultur der Steilwandfahrer einer Renaissance. Wir haben die Entwicklung des Skisports jenseits der 45-Grad-Marke von seinen Wurzeln bis zur Gegenwart begleitet.
Vergessene Pioniere und neue Interpreten
Ein Berg füllt den Bildschirm – eine Wand aus Eis, Schnee, Fels. Harte Kanten, Licht und Schatten wechseln sich ab. Eine Drohne zoomt auf einen Freerider, der oben steht, den Schnee von den Ski klopft und angespannt in die Tiefe blickt. Abstoßen, der erste Schwung, Pulverschnee, schneller, mitfiebern, Vollgas, Sluff, steil, ein Sprung, ganz schnell ist er unten. Freeriden 2018.
Style entscheidet
Mit unseren Eltern waren wir als Kinder auf gewalzten Pisten unterwegs, im Fernsehen kämpften die Abfahrtsläufer um Hundertstel und der Anton aus Tirol prägte den Soundtrack. Heute folgt unsere Art des Skifahrens einem anderen Lebensgefühl. Doch unser kollektives Skigedächtnis reicht nicht weit und bei unseren alpenländischen Nachbarn werden andere Geschichten abends in der Bar erzählt. Darin geht es um die steile Welt, da, wo gerade noch Schnee liegen bleibt, wo Fehler fatal sind, Wände so steil sind, dass sie für den durchschnittlichen Bergsteiger ein anspruchsvoller Aufstieg sind. Eine Welt, die so weit fernab der Skigebiete stattfindet, dass sie bei uns oft vergessen wird.
Holzski, Lederschuhe, Riemenbindungen
Dabei fing alles im deutschsprachigen Alpenraum an. Schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg schrieb Arnold Lunn (das ist einer der Typen, die den Skisport Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa salonfähig machten) von einer heute unbekannten Abfahrt bei Saas-Fee (Schweiz), die so steil war, dass sie „garantiert niemals wiederholt würde“. Er schätzte sie auf 45 Grad. Etwas später befuhren er und sein Bergführer Josef Knubel den Dom in den Walliser Alpen, im oberen Teil 45 Grad steil. Doch Lunn hatte kein Interesse an steilen Abfahrten, er wollte den Skisport in der breiten Masse bekannt machen und produzierte dafür erfolgreich Bücher und Fotos. Doch die 45 Grad markieren bis heute die Schwelle zwischen „normalem“ Skifahren und Steilwandskifahren. Im Vergleich: Die steilste Skipiste hat wohlwollend gemessen 35 Grad.
Und es ging weiter
Schon 1931 fuhr Anton Seelos das Zuckerhütl hinab und gezielt nach einer steilen Abfahrt suchten 1935 Peter Schintelmeister, Erwin Schlager und Fritz Kügler. Auf langen Holzskiern ohne Stahlkanten fuhren sie in Wollkleidung die Nordflanke des Fuscherkarkopfs, bis heute eine steile Eistour. In Frankreich gelang Émile Allais in den 1940er-Jahren steile Abfahrten und 1953 fuhren Lionel Terray und Bill Dunaway die Nordflanke des Mont Blanc hinab.
Sylvain Saudan
Gemeinsam mit zwei Freunden stieg Sylvain Saudan am 23. September 1967 das Spencer Couloir an der Aiguille de Blaitière bei Chamonix auf. Eine Rinne, die mehrere Hundert Meter lang über 45 Grad hat und damals wie heute eine herausfordernde Eistour ist. Sylvain schnallte sich die Ski an, atmete tief durch und machte die ersten Schwünge – anfangs noch gesichert an einem Seil. Doch die Skikanten hielten und er band sich los. Seine Kameraden stiegen zu Fuß ab. Im Tal bekam ein Journalist von „Paris Match“ Wind von der Geschichte – und glaubte kein Wort. Also flogen sie in einem Helikopter hinauf. Die Spuren der Abfahrt bewiesen den Mut und das Können des Wallisers. Die nächste Titelseite von „Paris Match“ zierte ein Porträt von Sylvain Saudan.
Der erkannte recht schnell, dass er mit dieser Art des Skifahrens aus seiner Skilehrertätigkeit entkommen konnte. Er war 31, ambitioniert, sah gut aus und hatte Charisma, um ein Publikum für sich zu begeistern. Also plante er eine Karriere, die auf das Steilwandskifahren setzte. Bei insgesamt zwölf großen Abfahrten gilt er als Erstbefahrer – jedes Mal hatte er die Presse dabei, filmte und hielt seine Abenteuer für die Nachwelt fest. Jede der Abfahrten war schwerer, spektakulärer und gefährlicher als die vorherige. Er startete in Chamonix, drückte berühmten Rinnen und Flanken seinen Stempel auf: Couloir Gervasutti, Mont-Blanc-Südseite, befuhr in der Schweiz die längste Rinne der Alpen, das Marinelli-Couloir, die berühmte Eiger-Westflanke, ging nach Nordamerika, fuhr als Erster vom Denali und vollendete seine Karriere im Himalaja am Gasherbrum I.
Damit folgte er der klassischen Karriere eines Alpinisten, die in den heimischen Bergen beginnt und in den hohen Bergen auf Expeditionen endet. Allerdings sah er sich immer als reiner Skifahrer: ohne alpine Sicherheitsausrüstung, allein auf sich und seine Ski gestellt. Nur bei der Kleidung machte er eine Ausnahme, er zog sich einen Wollpullover über: „Mit einem Anorak würde ich im Falle eines Sturzes viel schneller rutschen“, erklärte er. „Ein Pullover bremst doch ein wenig und ich habe vielleicht noch eine Chance, heil davonzukommen. Eine sehr kleine Chance freilich nur, aber man kann nie wissen!“
Heini Holzer
Saudan war nicht allein. Die Zeit war reif für diese Art des Skifahrens. Im deutschsprachigen Raum machte der Südtiroler Heini Holzer von sich reden. Ganz anders als Saudan war Holzer bescheiden, hängte seine Leistung nicht an die große Glocke, unternahm Abfahrten abseits jeglicher Medienaufmerksamkeit. Während sich Sylvain Saudan im roten Sportwagen feiern ließ, tuckerte Heini Holzer auf einem Moped von Tour zu Tour, lebte bescheiden als Kaminkehrer. Dabei wusste er, wie das Spiel mit Sponsoren und der Öffentlichkeit funktionierte – er war Seilpartner von Reinhold Messner. Heini durfte nur aufgrund eines Irrtums nicht mit in den Himalaja auf Expedition: Er maß nur 1,53 Meter und damals in den 60er-Jahren dachte man, dass er damit zu klein war.
Er blieb zu Hause und entdeckte das Steilwandskifahren als Disziplin. Hier konnte er auf relativ jungfräulichem Terrain alpinistische Höchstleistungen bringen. Seiner strengen Auffassung nach zählte eine Abfahrt demnach nur, wenn man zuvor aus eigener Kraft aufgestiegen war. Anders als Saudan nahm er nie einen Helikopter oder ließ sich gar die Ski tragen. In der lokalen Südtiroler Bergsportpresse verfasste er gelegentlich Artikel, aber zunächst blieb er weitgehend unbekannt. Doch auf sein Konto gehen über 100 Erstbefahrungen, teils so schwer, dass sie bis heute nicht wiederholt wurden.
Die Macht der Medien
Der Herausgeber der deutschsprachigen Zeitschrift „Alpinismus“ (heute „Alpin“) Toni Hiebeler erkannte das öffentlichkeitswirksame Potenzial des Steilwandskifahrens. Von Anfang an veröffentlichte er die Abfahrten Saudans und gezielt dann auch von seinem Freund Holzer. Er erweiterte die Berichterstattung in den folgenden Jahren auf spektakuläre Abfahrten. So beschrieb er die „Neue Welt“ an der Zugspitze schon 1968 als „Leckerbissen für Steilwandliebhaber“. An der Bescheidenheit Holzers und seiner strengen Arbeitsmoral liegt es jedoch vermutlich, dass Steilwandskifahren in Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz nie die Aufmerksamkeit und den Stellenwert erreichte wie in Frankreich oder Italien. Im Strudel der Zeit ebenfalls völlig untergegangen sind die Leistungen seiner Seil-, Ski- und Lebenspartnerin Sieglinde Walzl. Fast alle Fotoaufnahmen von Heini hat sie geschossen – keiner der männlichen Fotografen hatte das Können oder den Mut, ihn zu begleiten. Und: Sie war meist mit auf Skiern unterwegs.
Die zweite Generation
Auch wenn in Deutschland kaum Medien über Saudan und Holzer berichteten, sahen nun mehr ambitionierte Alpinisten, was auf Skiern möglich war. Die Salzburger Manfred Oberegger, Albrecht Thausing und Kurt Lapuch zählten dazu – sie waren herausragende Kletterer und auf Skiern ohnehin erfahren. Als sie mitbekamen, dass Saudan einen Trip nach Osten unternehmen wollte, reifte ein Plan. Sie befuhren die Sonnblick-Nordrinne, und da Kurt sich dort ein Bein gebrochen hatte und für eine Saison ausfiel, befuhren Manfred und Albrecht die Göll-Ostwand, eine Abfahrt durch das Marinelli-Couloir und schließlich die Pallavicinirinne am Großglockner ohne ihren dritten Mann. Albrecht Thausing: „Wir dachten uns: Ja sackradi, der [Saudan] braucht net extra von Frankreich da herfahren, wir ham’s ja viel näher!“
Diesen trockenen Humor haben sie sich bewahrt und so erzählte Manfred dem Autor dieses Textes: „Vor ein paar Jahren war ich mit dem Fahrrad auf der Schlenkenrunde und traf eine Linzer Partie, auch so etwas ältere Herren wie wir, die sich lustig unterhielten. Wir setzten uns dazu, tranken etwas gemeinsam. Da erzählt einer von denen, was er vor Jahrzehnten in der Pallavicinirinne erlebt hatte: Er wäre im Aufstieg gewesen, als ihm etwas entgegenkam, das er nicht erkannte. Es waren zwei Skifahrer. Der eine kam zu ihm und meinte: ,Was? Hier geht ihr zu Fuß hoch? Boah! Ist das nicht steil und anstrengend?‘ Und weg wäre er gewesen… Der Skifahrer, der war ich! 40 Jahre später haben wir uns wiedergetroffen – was für ein Zufall!“
In den Westalpen
Währenddessen erkannten auch im Westen immer mehr die Möglichkeiten, die sich aus der Kombination von Ski und Alpinismus und Medienaufmerksamkeit ergab. Patrick Vallençant und Anselme Baud, zwei junge Bergführer aus Chamonix, setzten den strengen Kurs Heini Holzers fort, veröffentlichten ein Manifest des Steilwandskifahrens und nannten die Spielart Anfang der 70er-Jahre Ski Extrème. Ein griffiger, gefährlicher Name, der Aufmerksamkeit garantierte.
Zusammen hakten sie eine steile Abfahrt nach der anderen ab, stiegen immer zu Fuß auf, waren als gute Alpinisten stets auf Sicherheit bedacht und heute berühmte Marksteine wie etwa das Mallory Couloir an der Aiguille du Midi oder die Arête de Peuterey (Ost) gehen auf ihr Konto. Vallençant befuhr in Südamerika den Artesonraju, den Logo-Berg der Paramount Pictures, und Anselme Baud schrieb Ende der 90er-Jahre einen inzwischen als Bibel geltenden Tourenführer über die Berge rund um Chamonix, der insbesondere steile Abfahrten enthält.
Auf Vallençant und Baud folgte Stefano De Benedetti. Auch er plante seine Karriere, immer steiler, immer gefährlicher. Und nachdem er die Innominata-Route am Mont Blanc abgefahren war, bis heute ohne Wiederholung, setzte er sich zur Ruhe – gründete erst erfolgreich ein Medienunternehmen und baut heute weltweit Wasserkraftwerke.
Und es gab noch viele mehr, eine Liste wäre nie vollständig. Zu ihnen zählen Boivin, Neuenschwander, Orgler, Wiedmann, Krinninger, Dawson, Stocker, Tremolada, Perret, McLean, Schmidt, Chrzanowski, Rumez, Cachat-Rosset, Stammberger, Gouvy, Rhem, Siffredi, Ericsson, Spricenieks und viele, die der Autor hier vergessen hat.
Just keep going
Eine Ausnahme ist Pierre Tardivel. Mitte der 80er-Jahre war er ein junger Wilder und reihte Erstbefahrungen aneinander wie andere Pistenskitage. Und er hörte nie auf – bis heute ist er unterwegs und online sind immer wieder Bilder neuer Erstbefahrungen zu sehen. Doch auch für ihn hat die Medienaufmerksamkeit nachgelassen. In den 90ern füllte er noch große Säle mit Fans, war in jedem Magazin zu sehen und drehte Filme. Im Vergleich zu damals ist es in den letzten 15 Jahren ruhig geworden. Zumindest in der Öffentlichkeit.
Neu
Denn wirklich aufgehört haben die Steilwandskifahrer nie, sie waren einfach nicht mehr im Medienfokus. Stundenlang in knochenhartem, vereistem Gelände einen Schwung an den anderen zu setzen war in den von Pulverschnee und hohen Cliff Drops geprägten Nuller-Jahren nicht sonderlich bildschirmtauglich. Doch mit der Entwicklung neuer Ski und einer neuen Skitechnik änderte sich das. Fahrer wie Jérémie Heitz oder Tof Henry zeigen heute, was möglich ist. Geschwindigkeit, Präzision und steile Hänge – es geht. Und sieht gut aus.
Spezialisten wie Andreas Fransson oder Reini Scherer haben sich dagegen auf Abfahrten konzentriert, die so schwer sind, dass sie wohl auf lange Zeit nur sehr wenige Wiederholungen zählen werden. Und wenn die Klimakatastrophe die Alpen so trifft, wie es viele Wissenschaftler befürchten, dann wird es einige der Abfahrten ohnehin nicht mehr geben – die Protagonisten der steilen Wände haben sich unverrückbare Denkmäler geschaffen. Doch ein paar Hänge sind noch übrig…