Wenn der Winter nicht zu uns kommen will, müssen wir eben zu ihm reisen. Das verlangt uns aber einen gewissen Grad an Spontaneität und Commitment ab. Doch aus Bequemlichkeit oder Unbehagen vor einer Reise ins Ungewisse scheuen wir uns allzu oft, dieses offensichtliche Risiko eingehen zu wollen. Dabei werden wir für unsere Neugier immer belohnt, wie uns Anne Wangler von ihrem Powder-Trip nach Chamonix berichten kann.
Schneearme Saison in Innsbruck: Ein spontaner Plan für Chamonix
Es ist Mitte Januar, die Saison in und um Innsbruck verläuft bisher eher mau. Die Schneebedingungen hatten wir uns alle natürlich komplett anders erhofft, was Tag für Tag die Ungeduld in uns etwas steigert. Endlich mal wieder „richtig“ Ski fahren, das wär’s!
Wir grübeln schon seit Wochen darüber nach, wo wir den ersehnten Powder genießen könnten, doch im kompletten Alpenraum lässt der Winter dieses Jahr wirklich zu wünschen übrig. Ein Trip nach Übersee wäre natürlich die Option, denn die Rockies ersticken gerade unter einer dicken Powder-Decke. Doch rein zeitlich bietet sich keine Lücke, um dieses Weiß kosten zu dürfen. Wir warten also und hoffen weiter.
Auf nach Chamonix für frischen Powder
Seit längerer Zeit habe ich mir vorgenommen, öfter Ja zu sagen – also weniger zu grübeln und das zu tun, was sich gut oder richtig anfühlt. Mein Handy klingelt. Es ist Max, einer meiner besten Freunde, Wegbegleiter und noch dazu ein extrem talentierter Fotograf. „Anne, hast du mal aufs Wetter geschaut? Chamonix kriegt gerade richtig was ab. Ich hab soooo Bock! Bist dabei? Hoji auch? Wir sollten allerdings morgen losfahren.“ Uhm… ja! Na klar!
Ich wollte ja öfter Ja sagen und hey, hier verpassen wir gerade gar nichts, also why not?! Innerhalb von 24 Stunden sitzen wir drei in Max’ Bus Richtung Chamonix. Max, Hoji und ich haben während der letzten Monate recht viel Zeit zusammen im Schnee verbracht, weshalb man die spontane Entscheidung für den Trip getrost als absoluten No-Brainer bezeichnen darf: der Forecast vielversprechend und die besten Reisepartner für derartige Aktionen an Bord. Der unstillbare Durst nach tiefem Powder treibt uns an.
Ankunft in Chamonix: Herzliches Willkommen und tiefer Schnee
Um Mitternacht stehen wir nach neunstündiger Fahrt vor Stian Hagens und Andrea Binnings Haus in Argentière. Das Freeride-Duo ist seit Jahren mit Hoji befreundet, doch die drei haben sich schon länger nicht mehr gesehen. Aus diesem Grund haben die beiden keine Sekunde gezögert und uns eingeladen, um die nächsten Tage mit ihnen und ihren zwei Kids zu verbringen.
Wir stehen mit Sneakern in 40 Zentimetern Neuschnee und laden mit nassen Füßen unsere Sachen aus. Möglichst leise schleichen wir uns ins stille Haus und ziehen mit Sack und Pack für die nächste Woche in den Boulderraum im Keller. Perfekt. Wir sind irgendwas zwischen total übermüdet und voller Vorfreude, denn es schneit – mehr als heftig. Und wir haben es bei Stian und Andrea perfekt getroffen!
Powder-Day in Chamonix: Erster Tag voller Herausforderungen
Etwas zerknittert wachen wir am nächsten Morgen auf, es schneit immer noch. Riesenflocken! It’s a fricking pow-day und zugleich ein freudiges Wiedersehen für Hoji mit Stian und Andrea, für Max und mich ein tolles erstes Kennenlernen. Wir trödeln nicht, packen unsere Sachen und starten Richtung Grands Montets.
Taktik an den Grands Montets: Der Kampf um die First Lines
Wir sind früh dran. Das heißt für Stian, der Erste an der Gondel zu sein. Das ist Gesetz – zumindest an einem Powder-Tag. Wer sich einen Sitz in der ersten Reihe sichern will, der muss bereit sein, eine Stunde in dichtem Schneetreiben vor geschlossenem Tor der Bahn zu stehen. Dann, sobald sich dieses öffnet, sollte man einen 150-Meter-Sprint in Skischuhen hinlegen, um dann tatsächlich als Erster für eine weitere Stunde vorm Drehkreuz im Bauch der Talstation zu warten.
Dichtes Gedränge, Rucksäcke und Ski, die einem permanent in den Rücken gedrückt werden, Leute, die schieben, sich anlehnen – schlichtweg anstrengend. Genervt blicke ich zu Hoji rüber: „F*** man, this is f***ing insane. Whyyy?!” Wir halten durch, das Drehkreuz öffnet sich. Ellenbogen raus und rennen, was das Zeug hält. Geschafft, erste Gondel!
Bei der nächsten Sektion muss man taktieren. Jetzt sollte man sich in Gondel Nummer zwei platzieren, da die Insassen aus Gondel eins vor dir den Weg zur dritten Bahn erst spuren müssen und du sie tatsächlich auf den letzten Metern überholen kannst. Nicht fair, aber das gehört wohl zum Spiel. Ja, Chamonix nimmt seine First Lines sehr, sehr ernst.
Als wir nach diesem etwas irrsinnigen Cham-Game oben angekommen – die Boots wurden natürlich bereits im Lift geschlossen –, bleibt zum Durchatmen keine Zeit. Rein in die Bindungen, kurz umschauen, ob alle da sind, und los geht’s, immer Stians leuchtend rotem Helm hinterher! Keiner von uns dreien kennt Chamonix wirklich gut, somit war Stians Angebot, uns zu guiden, mehr als Gold wert.
Der gebürtige Norweger lebt seit mehr als 20 Jahren mit seiner Familie in Chamonix, arbeitet als Bergführer und professioneller Athlet. Zudem ist er ein toller Mensch und auch nach diesem Trip ein wirklich guter Freund von mir geworden. Ohne ihn wären wir komplett aufgeschmissen – ohne Local Knowledge im absoluten Whiteout.
Nach dem ersten Run hat sich das Feld etwas entzerrt. Ich sitze mit Max allein im Sessellift, schaue ihn an, schüttle den Kopf und sage: „Lass uns wieder nach Hause fahren. Das war echt nicht cool.“ Für uns ist diese Art von Powder-Stress echtes Neuland und sowohl wir beide als auch Hoji fühlen uns nicht zu 100 Prozent wohl.
Nach dem dritten oder vierten Run kommen wir dann alle etwas runter, die Sicht wird besser, die Schneedecke fühlt sich für die Neuschneemenge wirklich stabil an und die Schneequalität ist so fluffig, so leicht, so tief… Wir können unser Glück kaum fassen und sind ultra-gestoked, endlich wieder Ski zu fahren: der beste Schnee der Saison, perfekte Tree Runs und die beste Crew.
Skitour zum Col du Passon: Eine anspruchsvolle Route in Chamonix
Die nächsten beiden Tage verlaufen ähnlich, nur mit dem Unterschied, dass wir das Gebiet mit jedem Run besser kennenlernen und wir uns langsam, aber sicher an den Chamonix-Vibe gewöhnen. Bestens gelaunt schießen wir durch die offenen Lärchenwälder und lassen uns den kalten Powder bis über die Nasen und Ohren fliegen.
Die Euphorie spricht uns wortwörtlich aus den Gesichtern, die Augen strahlen, die Herzen lachen und Freudenschreie schallen den ganzen verdammten Tag lang durch die lichten Wälder des französischen Freeride-Mekkas. Und es hört einfach nicht auf zu schneien.
Über Nacht zieht es dann sogar noch komplett auf. Blauer Himmel, Sonnenschein, gute eineinhalb Meter trockenster Neuschnee und -28 Grad Celsius. Ja, zapfig ist es, sehr zapfig. Das heutige Tagesziel: Col du Passon. Wir starten wie immer extrem früh und bereiten uns für unsere erste Skitour im hochalpinen Gelände vor. Stian packt seine ultraleichten, 165 Zentimeter kurzen Ski in den Bus, dazu einen Mini-Rucksack mit der wichtigsten Gletscherausrüstung, Erste Hilfe, Seil, Pickel, Steigeisen. Alles ist so leicht und minimalistisch gehalten wie nur möglich.
Herausforderungen im Hochgebirge: Von Ängsten zur Erleichterung
Ich bin nervös. So nervös, dass ich nicht mitgehen will. Die Kombination aus der Tatsache, dass ich mit Abstand die konditionell und alpinistisch Schwächste von uns vieren bin, und einer für mich extrem ambitionierten Route bereitet mir Kopfzerbrechen.
Ich versuche, mich zu erklären, und stehe mit Tränen in den Augen vor Hoji: „This is gonna be an absolute nightmare. I’ll be slowing you down. You’ll get cold and I’ll be on a grind out there. I’ll reach out to some friends and go shred with them instead. It’s okay.” Keine Chance. Wer ihn kennt, der weiß, dass er das nie zulassen würde. Wir sind ein Team und wir bleiben alle zusammen. Des Weiteren ist der Kanadier der beste Support, den man sich nur wünschen kann, einer, der immer da ist, mit den richtigen Worten und Handlungen im richtigen Moment.
Ich reiße mich zusammen, wische die Tränchen weg, atme tief durch, packe meinen Rucksack und lade – nach längerem Diskutieren – endlich meine Ski ins Auto. Mein komplettes Set-up war bislang nie auf Leichtigkeit getrimmt und ist somit recht schwer. Nachdem Stian meine gesamte Ausrüstung auf links gedreht hat, kann ich stolze dreieinhalb Kilogramm einsparen.
Mein Fokus beim Skifahren lag bis dato eher im klassischen Freeriden – ohne lange Aufstiege. Gewicht war also kein Problem. Nach diesem Tag habe ich mein bisheriges Gear-Konzept aber tatsächlich überdenken müssen. Man lernt schließlich nie aus und es ist nie zu spät, seinen Horizont zu erweitern, seine Perspektive zu ändern, die eigenen Grenzen zu verschieben und den Fokus auf Neues, anderes zu richten.
Wir sind zurück in Grands Montets und nehmen die erste Gondel. Oben angekommen müssen wir feststellen, dass aufgrund des heftigen Schneefalls die restlichen Lifte nicht öffnen werden. Das bedeutet, dass unsere ohnehin schon lange Tour „etwas“ verlängert wird. Über die zusätzlichen Höhenmeter freut sich vor allem eine Person aus der Gruppe nicht so sehr. Ich muss wohl nicht sagen wer. Ich atme erneut tief durch, kämpfe mit meinen Gedanken und Ängsten – rapple mich wieder auf.
Stian spurt mit seinen kurzen Beinen und doppelter Schrittfrequenz hoch zum Col des Rachasses, Max folgt mit schwerer Fotoausrüstung, ich versuche, einen ökonomischen Rhythmus für mich zu finden und mich nicht von Stians flottem Tritt irritieren zu lassen. Hoji ist bei mir. Ich hike mit dicker Daunenjacke und zugezogener Kapuze, die Heizsocken und -handschuhe laufen auf höchster Stufe. Mit Neckwarmer bis unter die Augen geht es Schritt für Schritt hinauf.
Belohnung für den Aufstieg: Unvergessliche Abfahrt und neue Freundschaften
Nach dem ersten Anstieg dürfen wir einen ersten Blick auf das Argentière-Becken werfen. Uns stockt der Atem – nicht nur wegen der Kälte, sondern auch vor Schönheit. Über uns hängt der imposante Aiguille-Verte-Gletscher, gegenüberliegend blitzt die noch tief stehende Sonne über die Gipfel Aiguille d’Argentière und Aiguille de Chardonnet. Wir fahren hinab zur Gletscherzunge: zwei Turns, das erste laute Jauchzen, Schreie vor Glück – der Schnee könnte nicht besser sein. Wir cruisen vorbei an riesigen eisblauen Gletscherbrüchen. Ich weiß gar nicht, wohin ich zuerst schauen soll. Totale Reizüberflutung.
Es ist bitterkalt und der Schnee so stumpf, dass wir sogar bergab schieben müssen. Um ein paar Körner zu sparen, fellen wir also recht weit oben im Hang wieder auf, überqueren den Gletscher und gelangen zum Fuße des nächsten Anstiegs. Endlich in der Sonne! Wir steigen auf, Stian wieder vorweg. Vor uns eröffnet sich eine wunderschöne, etwa 400 Meter lange Flanke. Stian gibt Gas, steht an diesem unverspurten Hang, der quasi darum bettelt, befahren zu werden.
Er funkt runter zu Max: „Do you wanna shoot it?“ Max zögert nicht: „Sure, let’s go!” Während Max nach der richtigen Kameraposition sucht, überlegt Hoji nicht lange. Ich schmunzle nur, gehe aus der Spur, er zieht schnellen Schritts an mir vorbei Richtung Stian und funkt nur kurz rauf: „Okay guys, this is the end of Hoji, haha!“
Tiefes Durchatmen bei mir, Erleichterung. Die Jungs sind nun alle ein ganzes Stück hinter mir, was mir erlaubt, ohne Stress mein eigenes Tempo zu laufen. Schritt für Schritt, slow and steady. Ab diesem Zeitpunkt fällt der ganze Druck ab, den ich mir natürlich selbst gemacht habe. Ich warte vor der letzten, sehr steilen Rampe in der Sonne auf die Jungs, trinke einen Schluck und befestige meine Ski und Stöcke am Rucksack. Die letzten 300 Höhenmeter Bootpack, dann endlich die lange Abfahrt bis hinunter nach Le Tour.
Der Hike ist etwas ausgesetzt, das Gestein unter der dünnen Schneedecke eher lose, das sorgt für einen letzten Adrenalinschub. Endlich am Grat! Der Wind bläst so stark, dass beinahe unsere Daunenjacken beim Umziehen wegfliegen. Die Weite so groß, die Berge so majestätisch, die Kälte so beißend, das Gefühl, endlich oben zu stehen, unbeschreiblich. Es folgen gute 2.000 Meter feinster Powder. Was für ein Tag! Jeder Schritt war es wert. Das Brennen in den Lungen, die anfänglichen Zweifel und Ängste sind schon fast vergessen.
Aus Fremden werden Freunde. Aus Freunden werden Wegbegleiter und Partner. Zeit am Berg verbindet. Passion verbindet. Skifahren verbindet. Merci, Chamonix! Thank you, skiing!