180 Kilometer Fußmarsch und 15.000 Höhenmeter in 20 Tagen, das wäre das grobe Zahlenwerk der Freetouring-Mission „Cross Tyrol“. Was diese Arithmetik nicht abzubilden vermag, sind die täglichen Herausforderungen wie Schneemangel, ungünstige Lawinensituationen oder wechselhaftes Wetter, mit denen sich die Mountain Tribe Crew bei der Durchquerung Tirols von Fieberbrunn im Osten bis St. Anton im Westen immer wieder konfrontiert sah. Wir begleiten Vali Werner-Tutschku, Flo Gassner, Martin Kogler, Lukas Mühlmann und Filmer Paul Schweller auf ihrer Mission.
Start der “Cross Tyrol” Freetouring-Mission
Die Idee für unser Abenteuer entstand eigentlich bereits 2019, als Lukas und Martin am Stubaier Gletscher unterwegs waren und erkannten, dass man von hier beinahe ohne Aufstieg bis ins benachbarte Sölden abfahren könnte. Durch diese Erkenntnis realisierten die beiden, wie engmaschig das Netz der alpinen Infrastruktur in Tirol geknüpft ist und wie man mehrere Skigebiete mit Tagesausflügen verbinden könnte.
Ohnehin stand schon lange auf Martins Bucket List, einmal sein Bundesland auf Skiern zu durchqueren. Hinter diesen Punkt müsste die Mountain Tribe Crew also ein Häkchen setzen, das war klar.
Das Konzept zu unserem Movie „Cross Tyrol“, durch ganz Tirol von Ost nach West auf Skiern zu reisen und das gänzlich ohne bequemen Shuttle zwischen den Resorts, war geboren.
Bei der Planung der einzelnen Etappen kamen wir zu dem Ergebnis, dass die Distanz in circa 20 Tagen zu bewältigen wäre und, noch viel wichtiger, wie schön und unberührt die Berglandschaft zwischen den erschlossenen Tälern sein müsste.
Eines wurde uns schon früh klar: Einzelne Tage würden uns extrem herausfordern. Lukas entgegnete dann immer: „Da muss man sich dann einfach durchbeißen.“
Unerwarteter Rückschlag vor dem Start
Den größten Rückschlag mussten wir aber bereits zwei Wochen vor Beginn der ganzen Mission verdauen, als uns Martin im Februar 2022 aus dem Senatorium Kettenbrücke in Innsbruck anrief und von seinem gerissenen Kreuzband berichtete. Das gesamte Projekt war für ihn bereits gelaufen, bevor es überhaupt losgegangen war – zumindest in dieser Saison. Wir waren sprachlos. Zwei Jahre Planung und dann sollten wir dieses Abenteuer nicht gemeinsam verwirklichen können? „Wie geht es nun weiter?“, fragten wir uns.
Wir befanden uns quasi auf der Abschussrampe zu einem unvergesslichen Trip und dann dieser Anruf in Kombination mit den extrem herausfordernden Schneeverhältnissen im Winter 2021/22 – ein Super-GAU! Unser Kartenhaus schien komplett in sich zusammenzufallen. Die Mountain Tribe Crew entschied sich also, für Martin die Tour zu splitten und auf zwei Jahre aufzuteilen, um ihm die Chance zu geben, im zweiten Jahr die Gipfel und Freeride-Lines im Westen Tirols mitzuerleben.
Ein Gewaltmarsch und erste Erfolge
Die ersten Tage verliefen reibungslos, auch wenn die 70 Kilometer von Fieberbrunn bis nach Silberleiten lang waren. Sehr lang. Wir waren damals teilweise bis zu 16 Stunden pro Tag auf Achse, um uns dem ersten großen Etappenziel zu nähern.
Paul hat es im Nachgang treffend formuliert: „Für mich war der kritischste Moment der Tour nicht unbedingt der gefährlichste. Am zweiten Tag der Durchquerung hatten wir eine sehr lange Etappe von Jochberg bis Silberleiten geplant. Zwei Stunden vor Sonnenaufgang aufstehen und zwei Stunden nach Sonnenuntergang ankommen: Die letzten Stunden habe ich sehr gezweifelt, ob ich die ganze Durchquerung schaffen würde. Wenn jeder Tag so hart gewesen wäre wie dieser, dann sicher nicht.“
Die vielen Kilometer in den Beinen schienen unserer anfänglichen Euphorie und Motivation dennoch nichts ausgemacht zu haben, denn unser erstes Highlight, der Gabler in den Zillertaler Alpen, stand bevor.
Majestätisch thronte er am Talschluss und Flos Traum, einmal auf dem Gipfel dieses lang ersehnten Bergs zu stehen, stand spürbar nah vor seiner Erfüllung. Flo hatte nämlich als kleiner Junge in Gerlos das Skifahren erlernt und die Leidenschaft für diesen Sport entdeckt.
Abschluss der ersten Etappe und Vorbereitung für das nächste Jahr
Nach diesem Highlight während der ersten Tage lag noch eine beträchtliche Strecke von 95 Kilometern zwischen uns und dem finalen Tourziel in Jahr eins. In Steinach am Brenner sollte die erste Hälfte unser Durchquerung enden und die Mission im folgenden Winter zusammen mit Martin fortgesetzt werden. Knapp 100 Kilometer, vergleichbar mit einer Strecke von Rosenheim bis fast nach Innsbruck.
Doch das engmaschige Netz an Skigebieten erleichterte die Arbeit erheblich, uns von Zell am Ziller bis zum Hintertuxer Gletscher zu hangeln und schließlich auf der Rückseite des Skigebiets in Richtung Steinach abzufahren.
Nach zwei Tagen hatten wir es bis zum kleinen Ort an der alten Brennerstraße geschafft. Hier beendeten wir den ersten Part unseres „Cross Tyrol“ Abenteures, um 2023 zusammen mit Martin mit Teil zwei loszulegen.
Wiedervereint für den zweiten Abschnitt der Tour
Mit prallen 26-Kilo-Rucksäcken auf den Schultern stand der erste Tag des zweiten Jahres an. Wir hatten uns 28 Kilometer und 1.580 Höhenmeter vorgenommen. Retrospektiv gehörte dieser Tag sicherlich zu den Momenten, in denen man tatsächlich den Sinn des Projekts infrage stellte. Der Aufstieg vom Bahnhof in Steinach am Brenner zur Bremer Hütte war ein harter Schlag ins Gesicht.
Aufgrund der dürftigen Schneedecke mussten wir ohnehin mit zusätzlichen Kilometern rechnen. Doch selbst der Anstieg zur Hütte auf knapp 2.500 Metern Höhe präsentierte sich an vielen Passagen ohne gleitfähigen Untergrund. Wir mussten also die Skier auf die Rucksäcke packen, was das Gewicht länger als geplant auf unseren Schultern um ungeplante Kilos in die Höhe schraubte.
Natürlich hatten wir mit einer langen, sehr langen Etappe gerechnet und uns bereits im Dunkeln von Steinach auf den Weg gemacht. Ebenfalls im Dunkeln erreichten wir dann 13 Stunden später unser Ziel. Erleichtert schliefen wir ein, ohne zu ahnen, dass uns eine Schlechtwetterfront am nächsten Tag eine Alternativroute abfordern würde.
Plan B – Kursänderung aufgrund des Wetters
Genau dieser Plan B zwang uns dazu, eines der absoluten Highlights der Tour, das Becherhaus auf der südlichen Seite der Stubaier Alpen, von unserer Liste zu streichen. Anstatt die atemberaubende Aussicht auf über 3.000 Metern Höhe zu genießen, mussten wir ins Stubaital abfahren und nun noch mehr Kilometer neben der Straße Richtung Gletscher fressen.
Valentin meinte damals niedergeschlagen: „In diesem Moment fühlt es sich an wie eine Niederlage: die Straße entlangzugehen, die Ski wieder am Rucksack, und auf das Becherhaus verzichten zu müssen. Aber es ist die einzig richtige Entscheidung an diesem Tag.“
Top of Tyrol – Gipfelerlebnis an der Wildspitze in den Ötztaler Alpen
Nach der Niederlage in den Stubaier Alpen wartete in den Ötztaler Alpen mit der Wildspitze eines der Highlights der kompletten Querung auf uns – der höchste Berg Tirols. In Sölden angekommen waren wir topmotiviert, diesen Gipfel in unser Tourbuch einzutragen. Doch die Vorzeichen waren denkbar schlecht, denn Sturm und schlechte Sicht ließen vorerst keinen Versuch zu, das Dach Tirols zu erklimmen.
Wir mussten unsere geplante Mission abbrechen und im White-out vom Rettenbachferner in Sölden zur Notabfahrt am Pitztaler Gletscher abfahren. Bei einer 20-tägigen Skidurchquerung kann sicherlich nicht immer alles nach Plan laufen, aber wir hatten es doch verdammt noch mal verdient, endlich auch mal Glück mit Wetter und Schnee zu haben! Es schien jedoch wieder mal nicht nach unseren Vorstellungen zu laufen.
Über Nacht hatte der Wind nicht nachgelassen und durch den einsetzenden Schneefall waren die Betreiber des Skigebiets gezwungen, den Liftbetrieb aus Sicherheitsgründen einzuschränken. Es lief nicht gerade viel.
Wir hätten vom Ausstieg der unterirdischen Gletscherbahn bis zum üblichen Start am Mittelbergjoch knapp 500 Höhenmeter zusätzlich überwinden müssen – und das im Sturm. Ohne Sicht müssten wir uns entlang der Pistenbegrenzungen bis zum Übergang kämpfen. Und ob dann nach einer kurzen Abfahrt auf den Gepatschferner ein sicherer Anstieg auf die 3.768 Meter hohe Spitze möglich wäre, war mehr als fraglich. Challenge accepted!
Martin fasste es Monate später zusammen: „An dem Tag wurde es zwar von niemandem ausgesprochen, aber jeder wusste: Wir hatten so viel Pech mit dem Wetter bisher, dass dieser Tag einfach der Tag sein musste, an dem sich das Wetter zur Abwechslung mal auf unsere Seite stellen würde.“ Und genau so war es!
Das Wetter besserte sich beinahe mit jedem Höhenmeter, den wir seit dem Ausstieg aus der Gletscherbahn in den Beinen hatten. Letztlich waren wir als Seilschaft allein im Aufstieg zur Wildspitze und zogen eine frische Spur, wo sich nach Schneefällen sonst Heerscharen von Tourengängern zu diesem Paradegipfel emporschlängeln. Mit dem ungewohnten Gefühl, dass auch wir auf der Gewinnerseite sein könnten, standen wir schließlich auf dem Dach Tirols.
„Mit der ganzen Crew auf der Wildspitze zu stehen war nach meiner Verletzung und dem Ausfall im Vorjahr mein Highlight der Durchquerung“, erinnert sich Martin.
Durchquerung des beeindruckenden Gepatschferners
Der riesige Gletscher- erstreckte sich unter uns über eine Fläche von stolzen 18 Quadratkilometern. Diese einzigartige Eislandschaft gilt es zu schützen und seine unberührte Schönheit zu wahren. Das wurde uns an diesem Tag bei Kaiserwetter noch klarer, als wir durch die eisige Wüste marschierten, um später die atemberaubenden Couloirs der Erichspitze zu befahren und schließlich in der Rauhekopfhütte über dem Kaunertal zu übernachten.
Für Lukas war diese Zeit am Gepatsch das beeindruckendste Zeugnis von unberührter Natur in Tirol. Nach vier Tagen im hochalpinen Gelände war es an der Zeit, sich wieder talwärts zu bewegen. Nach einem kurzen Kaffee im Kaunertal ging es über das Riffljoch in Richtung Pfunds, wo eine lange Talausfahrt auf uns warten würde. Das hofften wir zumindest.
Doch schnell wurde klar, dass wir aufgrund der dürftigen Schneelage einiges zu Fuß bewältigen müssten – mit den Latten wieder am Rucksack.
Strapazen im Paznauntal und Marsch nach Samnaun
Von Pfunds aus bis in die Schweiz zu marschieren mag ähnlich langweilig oder gar sinnbefreit klingen, wie das Gschnitztal von Steinach am Brenner bis zum Talschluss zu marschieren: 18 Kilometer, wieder mit den Skiern auf dem Rücken statt an den Füßen, entlang der Bundesstraße bis nach Samnaun. Hier stellten wir uns wieder einmal die Frage: warum? Okay, die Frage nach dem Sinn und Zweck stellt sich öfter während der Produktion von Freeride-Filmen.
„Je weniger wir darüber philosophierten, desto schneller verging die Zeit“, meinte Lukas. Und irgendwann waren Samnaun und somit Ischgl in greifbarer Nähe. Der Kontrast zwischen der unberührten Natur, die wir in den letzten Tagen erlebt hatten, und den überfüllten, verdrahteten Bergen inklusive Après-Ski-Flair, egal wohin man blickte, schockierte uns. Wir sehnten uns zurück in die Berghütten und auf die einsamen Gletscher.
Risiko und Belohnung bei Kappl
Der Wetterbericht im Paznauntal versprach Neuschnee. Das war endlich mal eine erfreuliche Nachricht. Schnell wurde ein Plan geschmiedet, um das bisher selten vorkommende Skifahren in diesem vermeintlichen „Skifilm“ überhaupt zu legitimieren.
Unnötiger Ballast wurde aus den Rucksäcken geschmissen, denn wir wollten den Dump in Kappl nutzen, um an einem ganzen Tag endlich Action in den Kasten zu bekommen: steile Runs unter dem Gipfel in der berühmten „Wall of Kappl“. Vali hatte schon lange von diesem Face geträumt, dementsprechend elektrisiert stand er am Drop-in.
Und die Bedingungen hätten nicht besser sein können. Neuschnee, Streiflicht und die gestiegenen Temperaturen sollten die Schneedecke ausreichend gesetzt haben. Dachten wir. Nachdem Vali als Erster seine Line in den Hang gesetzt hatte und unter Jubel unten angekommen war, wurde Lukas über Funk eingezählt.
Doch schon beim ersten Schwung löste sich ein kleines Schneebrett, aus dem er sich zum Glück schnell befreien konnte. Dumm nur, dass er im steilen, felsigen Gelände gestrandet war und einen Teil hinabklettern musste, um seinen Run fortsetzen zu können. Im zweiten Teil der Abfahrt testete Lukas vorsichtig einen Übergang, um eventuelle Risse in der Schneedecke zu erkennen zu können. Und tatsächlich, die Schneedecke gab nach und ein weiteres Schneebrett ging ab.
Lukas war mutig genug, genau das zu tun, was jeder Freerider in solch einer Situation tun sollte: umkehren und eine Abfahrt im flachen Gelände oder in Aufstiegsnähe wählen. „Das war nicht leicht für mich, aber das Risiko war einfach zu hoch. Vernunft ist keine Schande!“, erklärte Lukas im Tal.
Mit isotonischen Sportlergetränken in den Händen ließen wir in der Hütte dann den Tag Revue passieren. Später erfuhren wir, dass im Verlauf des Tages ein weiterer Skifahrer in Kappl ein Schneebrett ausgelöst hatte – zum Glück ohne Personenbeteiligung.
Ziel in Sichtweite – Endspurt nach St. Anton am Arlberg
Von Kappl im Paznauntal liegt St. Anton am Arlberg bereits in Schlagdistanz. Einmal hoch, runter in die Bowl hinter dem Skigebiet und auf der gegenüberliegenden Seite hoch zur kleinen Rendlspitze. Easy. Doch das grandiose Panorama auf unserem letzten Gipfel war für uns alle ein emotionaler Moment, denn im Osten thronte noch die Wildspitze und im Westen erspähten wir mit dem Arlbergpass schon die Ziellinie.
„Bei einem Projekt, das sich über mehrere Jahre im Kopf abgespielt hat und immer präsent gewesen ist, dann das Ziel vor Augen zu sehen ist einfach genial. Dabei geht es nicht nur um die sportliche Leistung, sondern vielmehr um die erfolgreiche Planung und Durchführung eines für uns so großen Abenteuers.“
Und dann standen wir tatsächlich in St. Anton.
Es muss an dieser Stelle wohl nicht erwähnt werden, dass wir uns die geglückte Durchquerung haben schmecken lassen. Das Mekka von internationalem Jetset und Freeridern bietet bekanntlich neben kulinarischen Leckerbissen auch ausreichend Möglichkeiten, es sich bis in die Morgenstunden gut gehen zu lassen.
“Cross Tyrol” – Der Film
“”Cross Tyrol” is a documentary of a ski traverse through the mountainous Austrian state of Tyrol. The Crew of Skiers chose to conquer the 520km distance and 43.000 vertical meters only relying on their feet and skilifts. The impressive alpine landscape poses some challenges for the crew of freeride skiers, who also seek out some spectacular freeride lines.
The route starts in the very east of the country leading them to the highest peaks, over stunning glaciers, through deep valleys and into lively ski resorts. Thus, they experience the strong contrasts between untouched nature and busy ski resorts.”
Produktion: Mountain Tribe
Regie: Flo Gassner & Paul Schweller
Produzenten: Valentin Werner-Tutschku & Flo Gassner
Athleten: Martin Kogler, Lukas Mühlmann, Flo Gassner, Valentin Werner-Tutschku
Kamera: Paul Schweller
Musik: Vitus Jonas Lindbüchl
Produktionsjahr: 2022, 2023